Sonntag, 26. September 2010

Gisela Gniech: Essen und Psyche
Über Hunger und Sattheit, Genuß und Kultur

Orosensorik, Nahrung und psychische Kraft
Beim Säugling hat der Mund die Funktion der taktil-räumlichen Erkundung der Umgebung, bevor dann später Hand und Auge diese Funktion übernehmen. Der Mund wird von der Psychoanalyse als erste
»erogene Zone« (vor dem After und der Genitalien) bezeichnet. Lebenslänglich bleibt die sogenannte »orale« Zone mit Genuß und Lust verbunden.
Interessanterweise erreicht der Mund einen ähnlichen Intimitätsgrad wie der After oder die Genitalien. Obwohl sichtbar, für die Umgebung aufgrund der hohen Sensibilität tabu.
> Kein Mensch faßt einer fremde Person in den Mund, Mütter können nur unter Schwierigkeiten den inneren Mund ihrer Kinder mit den Fingern abtasten.

Sensorische Signale wie Aroma, Temperatur oder Konsistenz, wird mit bestimmten Assoziationen aus der sozialen Umwelt verbunden: Hart bedeutet männlich, weich ist ein Zeichen für Krankheit. Zuschreibungen nicht kulturell bedingt, sondern Ursprung im Widerstand gegen die Aufnahme im Körperstoffwechsel bzw. der Anstrengung die unternommen werden muss, um Nahrung so aufzubereiten, daß sie physiologisch verwertbar wird.

Tabelle Nahrungsmerkmale, physiologische Aufbereitung und soziale Deutung


Die der Verdauung Widerstand bietende Hartnahrung erfordert Kautätigkeit, um aufbereitet zu werden. Das Kauen löst die Tätigkeit von Speichel- und Verdaungssaftdrüsen aus. Mit dem Kauen beginnt die durch Hunger vorhandene Erregung abzunehmen. Das Kauen beansprucht Energie, es dient dem Spannungsabbau. Kauen bereitet meist Lust. Die vielschichtigen sensorischen Empfindungen beim Kauen von harter, saftiger, krachender, würziger und stofflich anregender Speise kann in die Nähe von Thrillererlebnissen führen.

Thrill
In mehreren Untersuchungen wurde festgestellt, dass Sensationslustsucher lieber gewürzte, saure, harte und knusprige Nahrung mögen als helle, milde, süße und weiche. Bevorzugt auch Speisen, die als eher als gesundheitsschädlich einzustufen sind. Personen, die niedrige Bedürfnisse nach Sensationen und Thrill aufweisen, bevorzugen gesunde, leichtverdauliche Kost. Welche Erklärung gibt es für diesen Zusammenhang?

Die für das Schlucken und die Verdauung der verzehrten Nahrung notwendige Energie kommt aus dem körperlich-seelischen Reservoir der Person. Ist die Energiereserve eines Menschen aktuell oder dauernd groß, kann und will er die Kraft ausleben. Eine Möglichkeit zur Kompension stellt das Essen dar. Hier wird Widerstand in der Konsistenz, Anregung aus der Farbe sowie Thrill aus dem Geschmack gesucht. Ist die Energiemenge hingegen eher gering, zeigt sich dieses u.a in einer Vorliebe für Nahrung, dessen Verzehr und Verdauung keine große Anstrengung erfordert.

Speisenwahl
In der Fülle der sensorischen Reizung durch die Nahrung liegt u.a ein hoher Lustgewinn. Dieser spezielle Lustgewinn durch die kognitive Wahrnehmung beim Essen ist für viele Autoren ein Hauptmotiv der Nahrungsvorlieben, wobei die Sättigung nicht den dominaten Anteil hat, sondern der Verzehrvorgang.
»Essen« ist eindeutig an Genuß gebunden. Zu Genuß wird »Essen« gleich nach Urlaub, Erotik und Sexualität assoziiert.

Geschlechtsspezifische Unterschiede
Männer nennen Fleischgerichte als am häufigsten beliebte Speise, Frauen neigen mehr zu Obst und Gemüse. Das Motiv liegt bei den Männern in Stärkung der Kraft und Potenz, Frauen geben an, Gesundheit, Gewichtsproblematik und Schönheit über die Ernährung regulieren zu wollen. (Untersuchunge in Europa und Nordamerika)
Männer präferieren Fleischgerichte und Gewürze (vor allem Pfefferoni), Frauen haben etwas größere Streubreite bei der Speisenauswahl und den Gewürzen (Kartoffel-, Nudel-, Fisch und Gemüsegerichte, ausserdem Vorliebe für zuckerhaltige Speisen)
Im Jugendalter: Mädchen mögen gerne Nudelgerichte und Salat, Buben lieber Chips und Steaks.

Tabelle Nahrungspräferenzen

Kochbücher
Rezeptsammlungen spiegeln das wider, was tatsächlich in den Küchen zubereitet wird. Rezepte sind Träger traditioneller Kochgewohnheiten, werden mündlich oder schriftlich überliefert. Die ersten Schriften haben häufig auch medizinische Aspekte behandelt: Was tut den Menschen gut? Daneben waren oft Ratschläge für eine optimale Haushaltsführung und Vorratshaltung enthalten.
Seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts haben sich dann vor allem Frauen als kochbuchautorinnen profiliert. Diese Bücher enthielten nicht nur Rezepte, sondern waren gleichzeitig auch praktische Ratgeber für die Haushaltsorganisation und Lebenshilfen für die Frau. Schon die kleinen Mädchen wurden in die Rolle der kochenden Hausfrau eingeführt: Puppenküchen und Puppenkochbücher waren beliebte Spiel- und Beschäftigungssachen.

Die frühere Rolle der Kochbücher nehmen heute Frauenzeitschriften ein. Sie enthalten Ratschläge für alle Bereiche, die das Leben der »modernen Frau« bestimmen, wie z.B Aussehen, Gesundheit, Partnerschaft, Mode, Wohnung, Freizeit, Reisen, Beruf und Ernährung.
Diese »Frauenzeitschriften« formen zugleich Schönheitsideale und Körperbild bei den Leser_innen, haben damit auch großen Einfluß auf das allgemeine Esseverhalten.

Zucker und seine Bedeutungen
Frühe Nutzung als medizinisches Mittel (Antidepressivum, mildes Schmerzmittel etc.)
Süßigkeiten haben sozial wie auch körperlich besänftigende Effekte: Einsatz als Ansporn, Belohnung, Trost und Beruhigungsmittel (z.B. gesüßte Tees in Nuckelflaschen), euphorisierende Wirkung.
Süßigkeiten und deren Symbolwert: Bezeichnung als »süß« für Baby, Kleidung, Partnerschaft;
Erotische Atributte wie »Zuckerpuppe«, »Pfisichhaut«, »Birnenpo«;

Symbolwerte in sozialen Beziehungen
»vernascht werden«, »jemanden zum Fressen gern haben«, »Liebe geht durch den Magen«, »jemanden oder etwas satt haben«, »wie eine heisse Kartoffel fallenlassen«, »mit jemanden ein Hühnchen rupfen«, »jemanden in die Pfanne hauen«, »hinschicken wo der Pfeffer wächst«, jemanden durch den Kakao ziehen«, »der Hecht im Karpfenteich sein«

Ernährungsmythologie
Bestimmte Speisen und Verzehrrituale werden mit einer besonderen Wirkung in Beziehung gebracht. Daraus entstehen Diätideologien, die mit der Macht zusammenhängen, welche der Nahrung zugeschrieben wird. Meistens haben diese mit sozialen Beziehungen, Liebe, Potenz (inkl. Kraft und Gesundheit) sowie Sexualität zu tun. Solche Essensvorschriften enthalten sowohl Empfehlungen als auch Tabus. Sie haben zweifelsfrei mehr mit den psycho­logischen Bedürfnissen nach Sicherheit sowohl in der sozialen Interaktion )Liebe un Zuwendung) als auch im persönlichen Bereich (Gefahrenvermeidung und Umwelt) zu tun als mit der körperlichen Ernährung.

Aphrodisiaka
sollen Liebe und Sexualität steigern; Indikation: eiweißhaltig, mineralhaltig, ätherische Öle; sattmachende Mehlspeisen wie auch Brot, Nudeln und Reis fehlen; keine Flußfische; Getränke nur mild berrauschende Weine, kein Bier, kein Schnaps; Obst eher nicht, da es meist saftig ist und kühlend wirkt; Nahrungsmittel die formal die Form von Geschlechtsteilen auweisen wie phallus-längliche Fische, Spargel und Auberginen, hoden-herzförmiger Fenchel, Vulva-gleiche Papaya; Schon in der Klassik galten Satyrion, Mandragora und Alraune (alles hodenförmige Wurzeln) als unheimlich mächtige Mittel, die bei Liebesproblemen Verwendung fanden. Pop art: Hot Dog sexuelle Bedeutung (Penis zwischen Schamlippen)

Früher Spezielle Diät bei Mädchenzur Einhaltung der Keuschheit;

Wunschkinddiät
Generell sind mit der Nahrungszufuhr emotionale Aspekte verbunden, die häufig einer Heillehre gleichen. Eines der merkwürdigsten Beispiele ist die Wunschkinddiät, nach der über die Ernährungsweise der Mutter vor der Schwangerschaft angeblich das Geschlecht des zukünftigen Kindes bestimmt werden kann. Dies ist die Hoffnung, in die Irrationalität von Zeugung und Geburt eingreifen zu können. Von der Antike (z.B bei Hippokrates) über das Mittelalter (z.B. Juan Huarte) bis in die heutige Zeit (Feichtinger und Reiger 1991) wird empfohlen, Weißbrot, Geflügel- und Ziegenfleisch, Honig und Wein zu verzehren, wenn ein Junge gewünscht wird. Soll ein Mädchen gezeugt werden, enthält die nahegelegte Diät salzfreies Vollkornbrot, Salat, Gurken und Wassermelonen. Für Jungen sollte die Nahrung viel Natrium und Kalium (Kartoffeln, Karotten, Acocados, Bananen) enthalten. Für Mädchen wird viel Kalzium (Milchprodukte) und Magnesium (Blattspinatm Hirse-, Mais- und Gerstenflocken, Linsen und Erbsen) empfohlen. Fisch, Fleisch und Eier enthalten sowohl viel Natrium als auch Magnesium, sodaß sie für die Wunschkinddiät nicht so gut bezeichnet werden, da sie für beide Geschlechter zutreffen. Feichtinger und Reiger (1991) verweisen bei strikter Einhaltung ihrer Diätpläne auf 77,6% Erfolgsrate, wobei die »Jungendiät« leicht im Vorteil ist.

Kannibalismus und Vampirismus
Das Wort Kannibalismus kommt aus der spanischen Sprache und ist abgeleitet von dem Volksstamm »Karaiben«, deren Namen Kolumbus (s. Gniech 2001) fälschlicherweise als »Kaniben« verstand. Da die Kaniben gefürchtete Menschenfresser gewesen sein sollen, bürgerte sich der Begriff ein. Unterscheidung folgender Arten von Kannibalismus:

Realer Kannibalismus, d.h Menschenfresserei aus Hunger oder Nährstoffmangel

Real-symbolischer Kannibalismus, d.h. die Bedeutung des verzehrten Menschenfleisches ist wichtig, wie z.B das Verspeisen mutiger Gegner oder deren Herz bzw. Hoden, um sie erstens zu vernichten und zweitens sich den Mut selbst einzuverleiben.

Symbolischer Kannibalismus als Sinnbildliches Verzehren des Anderen. (»Mit den Augen verschlingen«)

Beim symbolischen Kannibalismus handelt es sich zum einen um den stellvertretenden Verzehr von meist Brot und Wein für Fleisch und Blut, wie beim Abendmahl oder Leichenschmaus. Zum anderen ist es das phatasierte Einverleiben, d.h. die totale Identifikation mit dem anderen. Vom Symbolwert her werden soziale Verschlingungsphantasien oft mit Hunger nach Liebe bzw. machtvollem Aneignen der geliebten Person gleichgesetzt. (Liebs 1988), (»Vor lauter Liebe auffressen«)

Beim Totenmahl wird die verstorbene Person durch das gemeinsame Essen der Trauernden von Sünde befreit, die Schuld wird weggegessen. Das Abendmahl war der Abschied Jesu Christi von seinen Jüngern, und es sollte die ewige Unvergänglichkeit durch Übernahme seines Leibes und seines Blutes versinnbildlichen: die göttiche Kraft wurde einverleibt. Interessant ist, daß bei kirchlichen Abendmahlfeiern die Oblate, welche das Fleisch Christi symbolisiert, nicht gekaut, sondern aufgelöst als Ganzes heruntergeschluckt wird, um sie nicht als Nahrung zu behandeln;
Symbolischer Kannibalismus oft im Süßwarenangebot in Form von Lebkuchenmännern udgl.

Vampirismus
Die psychologische Ursache des Vampirismus wird in der engen sozialen, oft sexuellen Bindung und dem Energieentzug gesehen. Aus Liebe leersaugen! Der Vampirbiss trifft in erster Linie Liebespartner oder Verwandte.

Märchen, Bellestristik und Film

Mythologie
In Sage und Märchen wird das Essen meistens mit zwei Themen in Verbindung gebracht: Einerseits Nahrungsmangel, der zu Hungerphantasien und damit verbundenen Schlaraffenlandbildern führt, andererseits Angst, selbst aufgefressen oder vergiftet zu werden.

Das Essen kann im Märchen beiläufige Thematik sein, wie bei Aschenputtel, wo die Tauben bei der Nahrungssortierung helfen: »Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen«, und bei Rapunzel, wo die schwangere Frau für die Befriedigung ihres Gelüstes nach Feldsalat ihr Kind verspricht.
Es kann auch Mittel zum Zweck sein, wie bei Schneewittchen, wo die eifersüchtige, böse Stiefmutter nach einigen vergeblichen Tötungsversuchen zm vergifteten Apfel greift.

Noch zentraler ist das Thema in den Märchen von Rotkäppchen und Hänsel und Gretel. Beiden Märchen wird das sexuell lüsternde Einverleiben eines begehrten jungen Liebespartners als Hauptkomponente zugeschrieben. Der Wolf verschlingt das junge Mädchen, denn es ist weitaus attraktiver führ ihn, als die alte Großmutter, mit der er zunächst Vorlieb genommen hatte.
Das Märchen von Hänsel und Gretel handelt von Hungersnot, einem Lebkuchenhaus, ungehemmter Gefräßigkeit und Naschsucht, geplanter Kinderfresserei, einr gebratenen Hexe und einem glücklichen Ende. Die Symbolik neben der Realschilderung der extremen Nahrungsknappheit zur Biedermeierzeit wird immer in Richtung Reifung und Sexualität ausgelegt. Die Kinder sind alt genug, um allein für sich zu sorgen. Mit Mühe werden sie ausgesetzt. Die Hexe verkörpert Anteile der Mutter, das Hexenhäuschen steht für den weiblichen Körper, den die Kinder sich einverleiben wollen. Sie wollen die Mutter vor Liebe aufessen. Die Hexe schützt sich vor diesem kannibalischen Akt mit Gegenwehr. Sie hat es aber nur auf den Knaben abgesehen, den sie nun ihrerseits vor Liebe verschlingen möchte. Jetzt wendet sich erneut das Blatt, und die Hexe wird selbst Opfer ihrer Gier.
Die Moral: Liebe und Trennungsängste haben viel mit Essen und Gefressenwerden zu tun.

Kochen ist dem Märchen mit Liebe gleichgesetzt. Bei Allerleirau und Zerelda soll das Mahl besänftigend und aphrodisierend wirken.

Die vollständige Essensphantasie ist der Überfluß. Dies ist gleichnishaft als Paradies bzw. Schlaraffenland in dem Märchen Der süße Brei oder dem Tischlein deck dich! beschrieben.

Tod und Eros
In der Bellestristik wir das Thema Essen am häufigsten mit Tod und Eros in Verbindung gesetzt (Hardt 1987)
Die berühmte biblische Geschichte, in der Esau sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht an seinen Bruder Jakob verkauft, wurde von Thomas Mann in Joseph und seine Brüder aufgearbeitet. Jakob stiehlt den Segen und die Liebe seines Vaters Isaak;
In den Romanen von Thomas Mann ist sehr viel Symbolhaftes enthalten. Sowohl in den Buddenbrocks als auch im Zauberberg hat er die Essszenen mit dem Hauch des Todes gekennzeichnet. Essen ist bei ihm immer mit Zerstörung und Dekadenz verbunden. Die Zeremonien sind unbehaglich, manchmal wiederwärtig bis zum Ekel, womit Überdruß ausgedrückt wird.
Das erotische Mahl wird in vielen Romanen als Mittel benutzt, um soziale Beziehungen zu verdeutlichen. Besonders die französichen Gesellschaftsromane von Balzac, Flaubert, Maupassant, Zola, Sand, Hugo und Dumas enthalten reichlich Stoff über Sinnlichkeit und Entfremdung im vorletzten Jahrhundert.
Auch die Engländer wie Dickens und Wolf sowie die Iren Proust und Joyce bedienen sich der Essszenen, um das Gewirr der mitmenschlichen Gefühle plastisch darzustellen. Die dänische Schriftstellerin Tanja Blixen hat in ihrer Erzählung Babettes Gastmahl das Kulturereignis Essen mit allen Assoziationen dargestellt: lebenserhaltend, sozial kontrolliert, symbolisch, mystisch, plitisch, sinnlich, destriktiv, erotisch, religiös, musikalisch, zeremoniell usw.
Martina Kaller-Dietrich: Macht über Mägen. Essen als eigenmächtiges Tätigsein von Frauen in einem mexikanischen Dorf. Vom Widerstand gegen die diagnostische Macht der Ernährung;

Essen als Tätigsein von Frauen in San Pablo Etla meint das Herstellen, Aufrechterhalten, Erneuern und Beleben von Beziehungen und damit die ständige Versicherung von Zugehörigkeit. In ihrer unzähligen Vielzahl lassen sich die Aspekte der kulturellen Gestaltbarkeit des Essens und Trinkens und ihre Eigensinnigkeit also weder auf physische, technische oder ökonomische Konstruktionen von Ernährung aufzeigen, öffnet sich der Blick für das Essen als Tätigkeit und die damit in Verbindung stehenden Möglichkeiten zur Eigenmacht.

(… ) Es genügt nicht Menschen zu ernähren. Menschen müssen essen, brauchen Speisen, die vermtlich auf Dauer nicht von den Personen, die diese Speisen richten, losgelöst gedacht werden können. Weiters wird es nicht genügen, Menschen in physiologischer Hinsicht ausreichend Nahrungsstoffe zuzuführen. Diese Einsicht beweisen Ergebnisse aus der Weltraumforschung: Die konzentrierte Nahrung aus der Tube, die von der NASA zur Ernährung von Astronauten entwickelt wurde, vermochte den Menschen das Essen nicht abzugewöhnen. Eine spezielle Zusammensetzung der Raumfahrerkost reduzierte zwar den Vorgang der Verdauung auf ein Minimum, die Männer im All konnten aber nicht auf ihre Kautätigkeit verzichten, ohne krank und trübsinnig zu werden. »Tatsächlich, trotz Wissenschaft«, die das Essen aus der Tube entwickelt hat, schreibt Kubalka, »hat die NASA das Programm umgestoßen, und die Astronauten essen jetzt in der Raumkapsel Spaghetti, die schweben. Und das müssen sie lernen, weil anscheinend ein Mensch von Tubennahrung, auch wenn sie noch so gut ist, nicht leben will. Er will nicht leben und vielleicht kann er nicht leben.« (Martina Kaller-Dietrich, 1999)

Samstag, 9. Januar 2010

Elisabeth Meyer-Renschhausen: Der Streit um den heissen Brei; Zu Ökologie und Geschlecht einer Kulturanthropologie der Ernährung

Männliches Fleisch und weibliches Gemüse
Bereits Jean-Jaques Rousseau hatte in seinem pädagogischen Roman »Émile« eine deutlich geschlechtsspezifische Betrachtung der Ernährung entwickelt. Während er Fleischverzehr und Spiritousen seinem männlichen Helden Émile zuordnete, wurde über dessen reizende Frau Sophie behauptet, dass sie eine Vorliebe für Getreideprodukte, Milch und Süßigkeiten habe, aber »wesentlich weniger für Fleisch.
»Auch hatte sie nie im Leben Wein oder Alkohol angerührt. Wie Rousseau erklärte: blieb sie strikt dem Geschmack, »der ihrem Geschlecht eigen ist« treu.
Selbstverständlich wurden diese Gleichsetzungen von Weiblichkeit und Männlichkeit mit unterschiedlichen Arten der Ernährung weder zu einem Programm ausgearbeitet, noch wurde an ihnen im Alltag festgehalten. Dennoch beeinflußten diese Vorstellungen das Denken und Verhalten vieler Menschen des Westens des 19. Jahrhunderts.
Das Ideal der bürgerlichen Frau, die, wenn richtig sozialisiert, wenig aß, während der Mann, der Jäger und Fleischesser, dem Essen uneingeschränkt frönte, regte die Phantasie zahlreicher Schriftsteller an. In Gerhart Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«, einem schockierenden Thaterstück über den plötzlichen Wohlstand und moralischen Verfall schlesischer Kohlenreviere, ist der einzige positive Charakter einer Frau, Helene, die sich nach dem eben beschriebenen Stereotyp verhält. Das Stück, das die Angst vor Degeneration, das viele im späten 19. Jahrhundert quälte, für die Bühne verarbeitete, wurde auch von Bircher und seiner Frau gelesen und diskutiert.

Hintergrundinformation wie Tagebücher und weibliche Lebensgeschichten deuten darauf hin, daß Frauen im 19. Jahrhundert tatsächlich weniger als ihre Männer aßen und zwar auch, weil Fleisch und Wurst in Europa zu den teureren Lebensmitteln gehörten. In bestimmten Schichten der Gesellschaft blieben deshalb Frauen, im Gegensatz zu den Männern, bei einer vegetarischen Diät. Wie an anderer Stelle erwähnt, konnten sie sich Restaurantbesuche in aller Regel und durch beinahe alle Schichten durch nicht leisten.

Diese geschlechtsspezifische Perspektive auf das Essen hat eine lange Tradition bis in die Physiologie der Griechen und Römer, sie gewann jedoch im 19. Jahrhundert neue Relevanz. Einerseits erreichte die Polarisierung der Geschlechter in der bürgerlichen Gesellschaft eine neue Stufe. Andererseits nahm der Verzehr von Fleisch gleichzeitig mit dem Wirtschaftswachstum in den Industrieländern stetig zu. Darüberhinaus erhielten diese Eßgewohnheiten – wie erwähnt – seit etwa 1830 den Segen der Medizin, die sie auf den Status eines wissenschaftlichen Paradigmas erhob. Diese breiteren gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte müssen also berücksichtigt werden. Als Bircher-Benner und Kellogg sich gegen Fleisch aussprachen als sie Getreide, Gemüse, Früchte und Salat priesen, forderten sie nicht nur die wissenschaftliche Gemeinschaft heraus, sondern stellten auch Grundwerte der bürgerlichen Kultur in Frage.

Der Umgang mit der Natur entspricht der sozialen Ordnung
Der nordamerikanische Anthropologe Edward Schiefelin hat versucht die logische Ordnung, die hinter Nahrungstabus steht, zu entziffern. Er hat die Kaluli in Papa-Neu Guinea untersucht, deren Essgewohnheiten grundsätzlich beziehungsstiftende Wirkung haben. Der Neuankömmling hat dem kleine Kind etwas zu Essen zu geben, damit es die Angst vor ihm verliert, und das gilt nicht nur für die kleinen Kinder. Die jungen Frauen fallen ab ihrer ersten Menstruation unter ein Fleisch-Tabu. Sie dürfen kein frisches Fleisch, sondern nurmehr geräuchertes essen. Die jungen Männer hingegen, gehen gemiensam auf die Jagd, und verzeheren die Beute auch gemeinsam. Beides hat gruppenstifte Wirkung. Sobald der junge Mann jedoch verheiratet ist, darf er, wie seine Frau, nurmehr geräuchertes Fleisch essen. Das gilt auch für den Vater, solange die Kinder noch klein sind. Damit fällt der junge Mann aus der Gruppe der Altersgenossen heraus.
Stattdessen bekommen er und seine Frau nun Geräuchertes von ihrer Verwandtschaft geschenkt, was beide in die Verwandtschaftsgruppe einbindet. Mittels Tabu auf Frischfleisch wird der junge Mann dem »Prinzip familiärer Reproduktion« und der tatsächlichen Familie der Ehefrau zugeordnet. Das Geräucherte symbolisiert die Vorratshaltung und Haltbarmachung von Lebensmitteln, die in den meisten Fällen Aufgabe der Frauen ist.

Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern war auch bei den Maoris ausgeprägt. Die Frauen waren für das Konservieren der Nahrungsmittel, das Kochen, das Weben der Kleidung, das Unkrautjäten zuständig und konnten auch beim Vogelfang beteiligt sein oder übernahmen die küstennahe Fischerei. Andere Arbeiten, wie das Sammeln von Früchten und das Ölpressen, waren kaum geschlechtsspezifisch aufgeteilt. Auch arbeiteten beide Geschlechter gemeinsam auf den Feldern. Vor allem aber servierten die Frauen das von ihnen Gekochte und Eingelegte bei den Festmählern, in dem sie den Gästen die Nahrungsmittel in zeremonieller Formation, halb tanzend und bei hohen Festen singend überreichten. Große Vorräte an Lebensmitteln, teilweise über ein jahr für disen Zweck angebaut, gesammelt und gehortet, spielten in den verschiedenen Festen der Maoris eine zentrale Rolle. Die Speisen repräsentierten Gastfreundschaft, ökonomische Kontrolle, Ansehen und Herrschaft. Essen war überhaupt das typische Geschenk.
Trotz starker Geschlechtssegregration konnten die Frauen bei den Maoris bei Fehlen eines männlichen Häuptlingssohns auch Häuptlinge werden oder auch sonst durch vorbildliches Verhalten »Mana« erlangen. Sie aßen mit den Männern gemeinsam und konnten – abgesehen von Menschenfleisch, die Maoris waren bis 1830 Kannibalen – alles verzehren.

Auf Hawaii galten die Frauen als noa. Die Mahlzeiten mussten grundsätzlich getrenntgeschlechtlich eingenommen werden, da die Männer in Mahlgemeinschaften mit den Göttern speisten. Die Frauen mussten für ihre Speisen sogar eigene Feuerstellen und Gefäße benutzen. Grundsätzlich waren ihnen Schweinefleisch, Bananen, Kokosnüsse, Haifische und Schildkröten untersagt. Aber da die Frauen als noa galten, brauchten sie die Übertretung der Tabus wenig fürchten, da sie zur Strafe nicht geopfert werden konnten.
Gerade deshalb bildeten in Hawaii die Frauen neben den Königen die zweite Gruppe, die an der Aufhebung der ihre Bewegungsfreiheit regelmentierenden Tabus interessiert waren. So verschwanden auf Hawaii die Tabus besonders schnell. Die Frauen erklärten, dass sie keine getrennte Feuer für Männer- und Frauenmahlzeiten mehr akzeptieren und nunmehr gemeinsam mit den Männern essen würden.

Im Gegensatz zum Christentum kennen die meisten Religionen zahlreiche Speisevorschriften. Aber auch die wenigen christlichen Speisevorschriften, zu denen das Fasten gehörte, schufen Gemeinschaft und konstituierten Gruppen. Nachdem die aufgeklärten Priester die Londoner Iren vom Freitags-Fasten entbunden hatten, fielen die irischen Gemeinden in London auseinander.
Speisegesetze können als eine symbolische Kommunikation verstanden werden. Laut Mary Douglas sind Rituale und Religionen wichtiger als die Mythen, denn sie sind es, die die Gesellschaft zusammenhalten.