Samstag, 9. Januar 2010

Elisabeth Meyer-Renschhausen: Der Streit um den heissen Brei; Zu Ökologie und Geschlecht einer Kulturanthropologie der Ernährung

Männliches Fleisch und weibliches Gemüse
Bereits Jean-Jaques Rousseau hatte in seinem pädagogischen Roman »Émile« eine deutlich geschlechtsspezifische Betrachtung der Ernährung entwickelt. Während er Fleischverzehr und Spiritousen seinem männlichen Helden Émile zuordnete, wurde über dessen reizende Frau Sophie behauptet, dass sie eine Vorliebe für Getreideprodukte, Milch und Süßigkeiten habe, aber »wesentlich weniger für Fleisch.
»Auch hatte sie nie im Leben Wein oder Alkohol angerührt. Wie Rousseau erklärte: blieb sie strikt dem Geschmack, »der ihrem Geschlecht eigen ist« treu.
Selbstverständlich wurden diese Gleichsetzungen von Weiblichkeit und Männlichkeit mit unterschiedlichen Arten der Ernährung weder zu einem Programm ausgearbeitet, noch wurde an ihnen im Alltag festgehalten. Dennoch beeinflußten diese Vorstellungen das Denken und Verhalten vieler Menschen des Westens des 19. Jahrhunderts.
Das Ideal der bürgerlichen Frau, die, wenn richtig sozialisiert, wenig aß, während der Mann, der Jäger und Fleischesser, dem Essen uneingeschränkt frönte, regte die Phantasie zahlreicher Schriftsteller an. In Gerhart Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«, einem schockierenden Thaterstück über den plötzlichen Wohlstand und moralischen Verfall schlesischer Kohlenreviere, ist der einzige positive Charakter einer Frau, Helene, die sich nach dem eben beschriebenen Stereotyp verhält. Das Stück, das die Angst vor Degeneration, das viele im späten 19. Jahrhundert quälte, für die Bühne verarbeitete, wurde auch von Bircher und seiner Frau gelesen und diskutiert.

Hintergrundinformation wie Tagebücher und weibliche Lebensgeschichten deuten darauf hin, daß Frauen im 19. Jahrhundert tatsächlich weniger als ihre Männer aßen und zwar auch, weil Fleisch und Wurst in Europa zu den teureren Lebensmitteln gehörten. In bestimmten Schichten der Gesellschaft blieben deshalb Frauen, im Gegensatz zu den Männern, bei einer vegetarischen Diät. Wie an anderer Stelle erwähnt, konnten sie sich Restaurantbesuche in aller Regel und durch beinahe alle Schichten durch nicht leisten.

Diese geschlechtsspezifische Perspektive auf das Essen hat eine lange Tradition bis in die Physiologie der Griechen und Römer, sie gewann jedoch im 19. Jahrhundert neue Relevanz. Einerseits erreichte die Polarisierung der Geschlechter in der bürgerlichen Gesellschaft eine neue Stufe. Andererseits nahm der Verzehr von Fleisch gleichzeitig mit dem Wirtschaftswachstum in den Industrieländern stetig zu. Darüberhinaus erhielten diese Eßgewohnheiten – wie erwähnt – seit etwa 1830 den Segen der Medizin, die sie auf den Status eines wissenschaftlichen Paradigmas erhob. Diese breiteren gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte müssen also berücksichtigt werden. Als Bircher-Benner und Kellogg sich gegen Fleisch aussprachen als sie Getreide, Gemüse, Früchte und Salat priesen, forderten sie nicht nur die wissenschaftliche Gemeinschaft heraus, sondern stellten auch Grundwerte der bürgerlichen Kultur in Frage.

Der Umgang mit der Natur entspricht der sozialen Ordnung
Der nordamerikanische Anthropologe Edward Schiefelin hat versucht die logische Ordnung, die hinter Nahrungstabus steht, zu entziffern. Er hat die Kaluli in Papa-Neu Guinea untersucht, deren Essgewohnheiten grundsätzlich beziehungsstiftende Wirkung haben. Der Neuankömmling hat dem kleine Kind etwas zu Essen zu geben, damit es die Angst vor ihm verliert, und das gilt nicht nur für die kleinen Kinder. Die jungen Frauen fallen ab ihrer ersten Menstruation unter ein Fleisch-Tabu. Sie dürfen kein frisches Fleisch, sondern nurmehr geräuchertes essen. Die jungen Männer hingegen, gehen gemiensam auf die Jagd, und verzeheren die Beute auch gemeinsam. Beides hat gruppenstifte Wirkung. Sobald der junge Mann jedoch verheiratet ist, darf er, wie seine Frau, nurmehr geräuchertes Fleisch essen. Das gilt auch für den Vater, solange die Kinder noch klein sind. Damit fällt der junge Mann aus der Gruppe der Altersgenossen heraus.
Stattdessen bekommen er und seine Frau nun Geräuchertes von ihrer Verwandtschaft geschenkt, was beide in die Verwandtschaftsgruppe einbindet. Mittels Tabu auf Frischfleisch wird der junge Mann dem »Prinzip familiärer Reproduktion« und der tatsächlichen Familie der Ehefrau zugeordnet. Das Geräucherte symbolisiert die Vorratshaltung und Haltbarmachung von Lebensmitteln, die in den meisten Fällen Aufgabe der Frauen ist.

Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern war auch bei den Maoris ausgeprägt. Die Frauen waren für das Konservieren der Nahrungsmittel, das Kochen, das Weben der Kleidung, das Unkrautjäten zuständig und konnten auch beim Vogelfang beteiligt sein oder übernahmen die küstennahe Fischerei. Andere Arbeiten, wie das Sammeln von Früchten und das Ölpressen, waren kaum geschlechtsspezifisch aufgeteilt. Auch arbeiteten beide Geschlechter gemeinsam auf den Feldern. Vor allem aber servierten die Frauen das von ihnen Gekochte und Eingelegte bei den Festmählern, in dem sie den Gästen die Nahrungsmittel in zeremonieller Formation, halb tanzend und bei hohen Festen singend überreichten. Große Vorräte an Lebensmitteln, teilweise über ein jahr für disen Zweck angebaut, gesammelt und gehortet, spielten in den verschiedenen Festen der Maoris eine zentrale Rolle. Die Speisen repräsentierten Gastfreundschaft, ökonomische Kontrolle, Ansehen und Herrschaft. Essen war überhaupt das typische Geschenk.
Trotz starker Geschlechtssegregration konnten die Frauen bei den Maoris bei Fehlen eines männlichen Häuptlingssohns auch Häuptlinge werden oder auch sonst durch vorbildliches Verhalten »Mana« erlangen. Sie aßen mit den Männern gemeinsam und konnten – abgesehen von Menschenfleisch, die Maoris waren bis 1830 Kannibalen – alles verzehren.

Auf Hawaii galten die Frauen als noa. Die Mahlzeiten mussten grundsätzlich getrenntgeschlechtlich eingenommen werden, da die Männer in Mahlgemeinschaften mit den Göttern speisten. Die Frauen mussten für ihre Speisen sogar eigene Feuerstellen und Gefäße benutzen. Grundsätzlich waren ihnen Schweinefleisch, Bananen, Kokosnüsse, Haifische und Schildkröten untersagt. Aber da die Frauen als noa galten, brauchten sie die Übertretung der Tabus wenig fürchten, da sie zur Strafe nicht geopfert werden konnten.
Gerade deshalb bildeten in Hawaii die Frauen neben den Königen die zweite Gruppe, die an der Aufhebung der ihre Bewegungsfreiheit regelmentierenden Tabus interessiert waren. So verschwanden auf Hawaii die Tabus besonders schnell. Die Frauen erklärten, dass sie keine getrennte Feuer für Männer- und Frauenmahlzeiten mehr akzeptieren und nunmehr gemeinsam mit den Männern essen würden.

Im Gegensatz zum Christentum kennen die meisten Religionen zahlreiche Speisevorschriften. Aber auch die wenigen christlichen Speisevorschriften, zu denen das Fasten gehörte, schufen Gemeinschaft und konstituierten Gruppen. Nachdem die aufgeklärten Priester die Londoner Iren vom Freitags-Fasten entbunden hatten, fielen die irischen Gemeinden in London auseinander.
Speisegesetze können als eine symbolische Kommunikation verstanden werden. Laut Mary Douglas sind Rituale und Religionen wichtiger als die Mythen, denn sie sind es, die die Gesellschaft zusammenhalten.

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