Sonntag, 26. September 2010

Martina Kaller-Dietrich: Macht über Mägen. Essen als eigenmächtiges Tätigsein von Frauen in einem mexikanischen Dorf. Vom Widerstand gegen die diagnostische Macht der Ernährung;

Essen als Tätigsein von Frauen in San Pablo Etla meint das Herstellen, Aufrechterhalten, Erneuern und Beleben von Beziehungen und damit die ständige Versicherung von Zugehörigkeit. In ihrer unzähligen Vielzahl lassen sich die Aspekte der kulturellen Gestaltbarkeit des Essens und Trinkens und ihre Eigensinnigkeit also weder auf physische, technische oder ökonomische Konstruktionen von Ernährung aufzeigen, öffnet sich der Blick für das Essen als Tätigkeit und die damit in Verbindung stehenden Möglichkeiten zur Eigenmacht.

(… ) Es genügt nicht Menschen zu ernähren. Menschen müssen essen, brauchen Speisen, die vermtlich auf Dauer nicht von den Personen, die diese Speisen richten, losgelöst gedacht werden können. Weiters wird es nicht genügen, Menschen in physiologischer Hinsicht ausreichend Nahrungsstoffe zuzuführen. Diese Einsicht beweisen Ergebnisse aus der Weltraumforschung: Die konzentrierte Nahrung aus der Tube, die von der NASA zur Ernährung von Astronauten entwickelt wurde, vermochte den Menschen das Essen nicht abzugewöhnen. Eine spezielle Zusammensetzung der Raumfahrerkost reduzierte zwar den Vorgang der Verdauung auf ein Minimum, die Männer im All konnten aber nicht auf ihre Kautätigkeit verzichten, ohne krank und trübsinnig zu werden. »Tatsächlich, trotz Wissenschaft«, die das Essen aus der Tube entwickelt hat, schreibt Kubalka, »hat die NASA das Programm umgestoßen, und die Astronauten essen jetzt in der Raumkapsel Spaghetti, die schweben. Und das müssen sie lernen, weil anscheinend ein Mensch von Tubennahrung, auch wenn sie noch so gut ist, nicht leben will. Er will nicht leben und vielleicht kann er nicht leben.« (Martina Kaller-Dietrich, 1999)

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